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Auf der Suche nach dem verlorenen Glück

Auf der Suche nach dem verlorenen Glück
Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit

Jean Liedloff reiste sechs Mal in den venezolanischen Urwald und lebte dort über zweieinhalb Jahre beim Stamm der Yequana-Indianer. Auf ihrer ersten Reise, auf der sie die Yequana kennen gelernt hatte, entdeckte sie, dass diese glücklich sind. Dass es unter ihnen keinen Streit gibt, keine bösen Worte, Kinder weinen praktisch nie, bei der harten Arbeit wird gesungen, es werden Spässe gemacht und es wird allgemein viel gelacht. Das machte sie neugierig auf die Lebensweise dieser Menschen.
Liedloff beschreibt in ihrem Buch, dass die Kinder der Yequanas, bis sie krabbeln können, getragen werden, egal, was die Mutter oder eine andere Person gerade für Arbeiten erledigt. Das Kind wird überall hin mitgenommen. Dabei erhält es keine besondere Aufmerksamkeit; es ist einfach dabei und wird so den ganzen Tag über Bewegung, Gerüche, Temperaturunterschiede und Geräusche stimuliert – immer in der Sicherheit des mütterlichen Körpers.
Das für einen Säugling, der getragen wird, angemessene Gefühl ist das Gefühl von Richtigkeit, von elementarem Wohlsein. Das einzige positive Selbstgefühl, das er, als das Tier, das er ist, kennen kann, gründet auf der Voraussetzung, dass er richtig, gut und willkommen ist. Ohne diese Überzeugung ist ein Mensch, welchen Alters auch immer, verkrüppelt durch Mangel an Vertrauen, an vollem Selbstgefühl, an Spontaneität und Würde. (S.46)
Sicher gebunden entdecken die Kinder, sobald sie sich selbständig fortbewegen können, ihre Umwelt. Dabei werden sie nicht angeleitet und nicht auf irgendwelche Gefahren aufmerksam gemacht. Die Mutter vertraut darauf, dass der Selbstschutz des Kindes stark genug ist.  Ab und zu sucht das Kind kurz Kontakt zu ihr, und in diesen Momenten ist sie sehr präsent und geht auf die Wünsche des Kleinen ein, das sich schon bald zu neuen Abenteuern aufmacht und dabei die etwas älteren Kinder beobachtet und imitiert. Es wäre ausserordentlich hilfreich, wenn wir Säuglingspflege als Nicht-Aktivität ansehen könnten. Wir sollten lernen, es als Nichtstun zu betrachten. Arbeiten, Einkaufen, Kochen, Saubermachen, Spazierengehen oder Sich-mit-Freunden-Unterhalten ist etwas, was man tut, wofür man sich Zeit nimmt, was man als Beschäftigung ansehen kann. Das Baby wird (zusammen mit weiteren Kindern) einfach selbstverständlich mitgenommen…(S. 201)

Liedloff postuliert ein menschliches Kontinuum. Es sei eine Erfahrungsfolge, welche alle Erfahrungen unserer Gattung seit Menschengedenken bewahrt und vereinbar sei mit den Erwartungen und Bestrebungen unserer Gattung in einer Umgebung, die mit derjenigen, in der jene Erwartungen und Bestrebungen sich ausprägten, übereinstimmt. Es schliesse angemessenes Verhalten anderer und entsprechende Behandlung durch sie als Teil jener Umgebung ein (S. 36)
Wenn Menschen also dem Kontinuum folgen, ihren ureigenen Instinkten und diese nicht durch den in der Evolution viel später aufgetauchten Verstand völlig überlagern, so handeln sie automatisch richtig. Bei der Kinderaufzucht heisst dies, dass das Kind nie allein gelassen wird, dass es in den ersten paar Monaten ununterbrochen Körperkontakt hat, damit es sicher und unabhängig wird. Verwöhnung – wie unser Verstand vielleicht behaupten könnte – kann zu diesem Zeitpunkt nicht stattfinden. Verwöhnung geschieht später, wenn Kinder nicht sicher sind und irgendwie getröstet werden müssen. Trost gibt’s dann allerdings kaum mehr…
Untersuchungen in der westlichen – sogenannt zivilisierten – Welt zeigen immer wieder, dass nicht einmal 50 % der Kinde sicher gebunden sind, also ihrer Bezugsperson und somit sich selbst und der Umwelt vertrauen. Unsicher gebundene Kinder können als Erwachsenen ihren eigenen Kindern wiederum keine Sicherheit geben, wie auch! Von solchen Kindern sagt Liedloff:
Kinder verwenden ein enormes Mass an Energie darauf, Aufmerksamkeit zu erringen – aber nicht, weil sie Aufmerksamkeit als solche benötigen. Sie geben zu erkennen, dass ihre Erfahrungen unannehmbar sind, und sie versuchen nur deshalb die Aufmerksamkeit einer Bezugsperson zu erringen, um diese Erfahrungen zu korrigieren. (S.214)

Wie das zu tun ist, zeigt sie in ihren Vorträgen auf oder in ihrer therapeutischen Praxis.

Auf der Homepage www.hebammenwissen.info ist zu lesen: Es ist ein Grundbedürfnis nach Körperkontakt, das tief in unseren Genen verankert ist. Biologen unterteilen den Nachwuchs der verschiedenen Tierarten in Nesthocker, Nestflüchter und Traglinge. Der menschliche Säugling ist kein Nesthocker – dafür fehlt ihm das entscheidende Kennzeichen: die geschlossenen Augenlider und Gehörgänge. Der menschliche Säugling ist offensichtlich auf kein Nestflüchter – denn es dauert ca. ein Jahr, bis er mit den Erwachsenen mithalten kann.
Auf derselben Seite werden zehn Vorteile des Tragens fürs Baby und die Pflegeperson beschrieben: die Kinder schreien weniger, die Bindung geschieht automatisch, die Kinder lernen mehr, sind weniger krank, das elterliche Feingefühl und ihre Kompetenz werden gesteigert. Es gibt also auch Menschen in der zivilisierten Welt, die sich zurückerinnern an das, was für den menschlichen Säugling eigentlich vorgesehen und normal wäre, aber von vielen als exotisch, übertrieben, nicht machbar etc. etc. betrachtet wird.

Ein Säugling, der alleine in einem Kinderbettchen, alleine im Zimmer liegt, fühlt sich getrennt von der Welt, hoffnungslos allein, denn er hat ja kein Zeitgefühl und keine Vorstellung davon, dass sich seine Lage je ändern könnte. Er erlebt  Trennung. Und so wird er später alles erleben: in der Trennung. Dies ist zwar eine Illusion – aber sie ist sehr mächtig und erschafft unser grösstes Leiden: Verlorensein in dieser Welt. Nur deshalb gibt es so viele Erwachsene, die körperlich und psychisch krank sind und zu 80 % dauerhaft Medikamente einnehmen.

Bild: Schweizer Familie 20/2017

Sonntag, 28. Mai 2017

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