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Ein Leben voller Staunen

Zum dritten oder vierten Mal lese ich Anne Devillards Buch ‹Ein Leben voller Staunen›, ein Gespräch mit Hans-Peter Dürr, dem Kernphysiker und Menschenfreund.
Staunen ist eine Fähigkeit, die man nie verlernen sollte. Kinder haben sie ganz natürlich. Und irgendwann kommt sie den meisten leider abhanden. Was nicht heisst, dass es ein Leben lang so bleiben muss. Das Kind in einem lebt immer weiter und auch dessen Fähigkeiten.

Es ist Wunder, dass Hans-Peter Dürr das Staunen geblieben ist. Mit fünfzehn hat er nachts in der zerbombten Stadt verkohlte Leichen aus den Kellern getragen. Dann war er bei den Amerikanern in Einzelhaft, in einer kleinen Zelle ohne Fensterglas, bei minus zwanzig Grad, wo er glaubte, man lasse ihn verhungern. Und später an der Universität in Berkeley war er der böse Deutsche.

Im Folgenden zitiere ich aus dem Buch, das 2013 erschienen ist, Seite 58f. Besser als er kann ich es auch nicht sagen…

‹Wir in der industrialisierten, sogenannten entwickelten Welt leiden – trotz oder wegen des ganzen Überflusses und der Hektik unseres Alltags – unter einem Gefühl der Einsamkeit und grossen Frustration. Die tieferen Ursachen dafür sind den meisten von uns gar nicht bewusst! Die mangelnde Sinnhaftigkeit resultiert vordergründig aus einem falschen Gebrauch unserer Rationalität. Wir benutzen sie, um Wissen über die Welt zu sammeln und zu verarbeiten, um damit dann besser handeln zu können. Gelingt es uns einmal, einen kleinen Zipfel der ‹Wahrheit› zu erhaschen, dann meinen wir, in diesem Zipfel gleich die einzige grosse Wahrheit gefunden zu haben. Wir betrachten fortan das ganze Weltgeschehen nur unter dieser einen neuen Einsicht und zwängen alles mit Gewalt in dieses Korsett, was nicht so recht passen will. Hinter diesem Impuls steht der Wunsch, die Komplexität unserer Mitwelt auf etwas für uns Einfaches und damit Überschaubares zu reduzieren. Durch diese vereinfachte Vorstellung der Wirklichkeit gelingt es uns, die die Zukunft betreffende Unsicherheit, die wir ständig als existentielle Bedrohung empfinden, zu mildern. Wir bilden sogar Schritt für Schritt die Wirklichkeit nach und versuchen, sie zu verbessern, um jegliche Unsicherheit zu beseitigen.
Unsere Wissenschaft hat uns gelehrt, unsere Mitwelt zu unserem eigenen Nutzen zu manipulieren und Wissen als Machtinstrument zur Herrschaft über Mensch und Natur systematisch zu entwickeln. Die Ausschliesslichkeit unseres Denkens ‹Wenn das eine richtig ist, kann nicht das andere auch richtig sein, also muss es falsch sein› hat viel Streit und viele Kriege verursacht.›

Wer das Staunen verlernt hat, glaubt nur noch seinem Verstand und macht damit den Hammer zum alleinigen Werkzeug, mit welchem er sein Lebenshaus bauen will. Das kann ja nicht gut kommen.
Im Staunen öffnen wir uns fürs Grössere, nur so ist Kreativität möglich; ansonsten rühren wie immer in der gleichen Suppe. Und die ist bereits angebrannt.

Sonntag, 05. September 2021

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